Der Reiz unserer Havelstadt

Der Reiz unserer Havelstadt

In den letzten zwanzig Jahren ist unsere Havelstadt um viele tausend Bürger gewachsen. Es sind nicht nur Berliner, die der Großstadt entfliehen möchten. Die Zuzügler kommen aus allen Regionen Deutschlands. Unser Bootsnachbar aus Sachsen wünscht sich, dauerhaft bei uns leben zu können. Doch ihm sind die Immobilienpreise zu teuer. Wer einmal hier sesshaft geworden ist, möchte nie wieder weg. Diesen Satz höre ich oft. Von meinen ehemaligen Mitschülern leben die meisten immer noch hier. Das ist ungewöhnlich und irgendwie auch bezeichnend.

Postkartenblick auf meine Havelstadt: Kirche und Mühle begrüßen den Besucher, wenn er die Inselbrücke überquert

Eine Stadt, die baut, blüht auf

Ab den 1990er-Jahren war dieser Slogan an der Kreuzung Holländer Mühle zu lesen. Damals war dort noch kein Kreisverkehr. Die sowjetischen Soldaten waren gerade aus den Havelauen abgezogen. Werder hatte noch nicht so viele Ortsteile und einen Bürgermeister, der in der Stadt zu Hause war und sie mit Leidenschaft und dem einen oder anderen Erfolg wachsen ließ.

Zierkirschen blühen in Werder (Havel)

Das Baumblütenfest, eine mehr als hundert Jahre alte Tradition, wurde in den 1990er-Jahren groß. Es kamen in manchen Jahren mehr als 100.000 Besucher in der Festwoche in unsere Kleinstadt. Konzerte von angesagten Popstars, Hubschrauberrundflüge, Erdbeeren mit Schlagsahne und die lokale Band Extraleicht, die bis morgens um ein Uhr auf dem Markt spielte, sind Erinnerungen aus dieser Zeit. Wir trafen Schulkameraden, alte Weggefährten und Freunde auf der Inselstadt und tanzten auf dem Straßenpflaster.

Einfamilienhäuser und Wohnungen überall

Einfamilienhäuser wuchsen in dieser Zeit wie Pilze aus dem Boden. Wohnungen wurden errichtet, Baulücken geschlossen. Mit der Jahrtausendwende nahm der Markt Gestalt an. In den Havelauen, dem größten Bauprojekt, entstanden Reihenhäuser. Später wurde der Baugrund für die individuelle Bebauung freigegeben. 5.000 Menschen wurden allein in diesem Stadtteil neu angesiedelt. Hinter einer Bahnschranke. Fünf weitere große Bauprojekte stemmte die Stadt. Allesamt für den Normalverdiener nicht wirklich erschwinglich. In den Havelauen wurden gezielt Luxuswohnungen vermarktet. Die Mieten stiegen, Menschen aus allen Teilen Deutschlands entdeckten die herrliche Lage am Wasser für sich.

Eine Stadt, die baut, wandelt sich

Die Werderaner, oder die alteingesessenen Werderschen, sind ein eigener Menschenschlag, wie wir es hier, in unserem Dialekt, gern umschreiben. Herzlich, aber ein bisschen brubblig. Verwachsen mit unserer Heimatstadt und unseren Traditionen. Das mag auf manchen, der hier in unsere Stadt gezogen ist befremdlich wirken.

Es kam die Zeit, in der wir nicht mehr nach rechts und links grüßend durch unsere Stadt liefen. Als sich die Kinderärztin wunderte, dass sich Eltern gegen das Impfen wehren, und in der Kita die Beschäftigung dem freien Spiel wich. Als sich die Mitglieder der Stadtverwaltung neu mischten und der Altbürgermeister sein Amt an eine Nachfolgerin übergab, die Werders Traditionen nicht zu schätzen wusste.

Bis zu 100.000 Menschen besuchten in der Festwoche die Baumblüte (Bild von 2011)

Heute ist das Baumblütenfest einer „Blütenwoche“ auf den Höfen gewichen. Die Stadt hat es von den traditionellen neun auf drei Tage verkürzt. Es gibt keine günstigen Wohnungen mehr, keine Liegeplätze für ein kleines Boot, das Füttern der Enten ist verboten, unsere Liegewiese an der Regattastrecke, auf der wir in unserer Jugend die Batterien unseres Recorders leerliefen ließen, wird vom Ordnungsamt überwacht. Musik abspielen verboten. Anlegen mit dem Boot verboten. Der einst öffentliche Steg auf der gegenüberliegenden Seite: Zugerammelt. Nur zahlende Gäste sind willkommen.

Weltoffene Havelstadt

Werder möchte weltoffen sein, Zuzügler aus Hessen sehen in sich die „urbane Elite“, die den verwurzelten Einheimischen einen neuen Input geben möchte. So ist es in der kostenlosen Heimatzeitung zu lesen. Eine politische Gruppe bietet Stadtspaziergänge an und fordert von den Grundstückseigentümern freien Zugang zum Wasser. Unsere gut besuchte Blütentherme ist dieser Gruppe ein Dorn im Auge. Erst sollte sie zu einer Schule umfunktioniert werden, dann wurde die Streichung der Gelder beantragt.

In den Heimatvereinen wird nur noch selten Berliner Dialekt gesprochen. In Werder gibt es täglichen Stau in viel zu engen Straßen. Radfahrer sind gefährlich unterwegs. Es ist schwer, einen neuen Hausarzt zu finden – wir nehmen nur Zugezogene auf -, Kitaplätze sind rar, die Kinder werden an den Grundschulen in Containern unterrichtet. Und Werder hat finanzielle Probleme. Die Blüte der 1990er-Jahre? Längst Geschichte.

Wie geht es weiter, in unserer Havelstadt?

So mischen sich die Charaktere, die Menschen, die aus verschiedenen Regionen Deutschlands, aber auch aus anderen Ländern kommen. Auch die Gefühle sind gemischt: Alteingesessene, Menschen, die Jahrzehnte hier leben und die Zugezogenen müssen zu einem gemeinsamen Leben zusammenfinden. Die Charaktere sind verschieden. Sie verändern unsere Heimatstadt. Manchmal betrachte ich die Entwicklung mit Wehmut. Wir waren einmal so klein. So grün. So familiär. Jetzt sind wir groß. Laut. Zugebaut, mit kleinen Häusern und großen Betonklötzen, in denen die Familien lieber unter sich bleiben. Doch das ist eine Entwicklung, die normal ist in einer Zeit, in der Menschen nicht ein ganzes Leben an dem Ort verbringen, an dem ihre Wiege stand.

Implosion der Infrastruktur

Wir haben eine Kreuzung, in der Innenstadt, sie liegt direkt vor der Schule. Wenn ich gelangweilt in meinem Klassenraum saß, schaute ich auf die Trabbis und Wartburgs und Ladas, die sich dort trafen. Die Kreuzung funktionierte ohne Ampel, die Autos zuckelten gemächlich drüber. Heute bilden sich tagsüber in allen Himmelsrichtungen Staus. Eine Ampel regelt den Verkehr. Dazwischen Fahrräder, Fußgänger auf dem Zebrastreifen, alle paar Minuten kommt ein Bus. Die Schulen sind überfüllt, die Kindergärten, die Terminkalender der Ärzte. Die Einwohner der Stadt wachsen, die Infrastruktur bleibt ein Relikt aus den 1990er Jahren, als wir noch halb so stark waren wie heute.

Am Abend lichtet sich der Verkehr in der Innenstadt. Tagsüber stauen sich hier die Autos, die von der Insel kommen

Die jungen Familien, die heute in unserer Havelstadt ihre Häuser beziehen, kommen aus Berlin, NRW, Niedersachsen, Hessen oder Bayern. Sie kommen freiwillig, finden hier ihre Arbeit, ihr Zuhause, sie lassen ihr Herz hier. Heimat ist ein wechselvoller Begriff.

Sehnsucht nach der beschaulichen Kleinstadt

Ich habe manchmal Sehnsucht nach der ruhigen und manchmal etwas verschlafenen Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin. In der ich beim Bummel durch die Stadt immerzu grüßen musste, weil jeder jeden kannte. In der es keine Staus gab und lauter kleine Geschäfte, in denen wir einkaufen gingen. Konsum, Delikatladen, Drogerie, Fleischerei: Noch heute kann ich die einzelnen Läden benennen. In den Geschäften gibt es Mode, eine Fahrschule, einen Dönerimbiss, teure Restaurants. Alles ist anders. Manchmal komme ich mir vor, als hätte ich meine Heimat verlassen. Obwohl ich hier verwurzelt bin. Andere Menschen finden hier an der Havel eine Heimat und ich verliere mein Heimatgefühl?

Eine Havelstadt und die Wahrung der Traditionen

Doch was ist es, das unsere Havel so besonders macht, dass Menschen, die hier leben, ihre Wurzeln nie verlassen? Dass Menschen aus anderen Regionen hier neue Wurzeln in die Erde schlagen? Das Wasser? Die Kultur? Die Lebensart? Die Infrastruktur? Die vielen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung? Vermutlich ist es von allem etwas. Die Havel ist nicht mehr nur unsere Heimat. Das ist ganz normal und in vielen anderen Regionen sicher auch so. Aber es ist schade. Ich hätte mir eine Wahrung unserer Traditionen gewünscht. Leider hat niemand darauf geachtet.

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